Soloselbständigkeit im Kontext neuer Erwerbs-, Arbeits- und Lebensformen


Der Wandel zur Wissensgesellschaft wird begleitet von einschneidenden Veränderungen in den Lebens- und Arbeitsverhältnissen der Menschen. Mit zunehmender Informatisierung, Tertiarisierung und Dezentralisierung der Arbeitswelt entstehen neue Erwerbs- und Arbeitsformen. Sowohl der Ort, die Zeit und der Umfang der Arbeit als auch die Übergänge zwischen Erwerbs- und Privatleben verlieren an Kontur. Und gleichzeitig geraten auch die beruflichen Stellungen aus dem Gehäuse. Die Grauzone zwischen abhängiger und selbständiger Beschäftigung wächst, sowie auch die Zahl an Selbständigen, die mit dem „Lehrbuch-Unternehmer“ nicht mehr viel gemeinsam haben. Während in den letzten 20 Jahren die Zahl der Arbeitsplätze schaffenden Selbständigen nahezu stagniert, hat sich die Zahl der allein arbeitenden Selbständigen fast verdoppelt. Die Soloselbständigen unterscheiden sich jedoch nicht nur hinsichtlich ihrer „Größe“ von den Arbeitgebern. Ihr Aufstieg geht teils mit prekären Einkommen, Subunternehmertum, Scheinselbständigkeit, wechselnden Statuspositionen und daher oftmals mit mehr Abhängigkeiten als Freiheiten einher. Allerdings zeigt sich auch eine andere Seite: Viele Soloselbständige sind autonome Wissensdienstleister und weit entfernt von irgendwelchen Zwängen. Sie arbeiten bewusst alleine, denn in einer wissensbasierten und vernetzten Wirtschaft kommt der eigenen Qualifikation häufig eine größere Bedeutung zu als der Verfügung über zusätzliche Arbeitskräfte. Was sind also die sozialen und wirtschaftlichen Triebkräfte der sich neu formenden Selbständigkeit? Dominieren künftig „moderne Tagelöhner“ oder autonome Experten? Müssen die Entrepreneurship-Lehrbücher überarbeitet werden?

 

Berufliche Selbständigkeit war zwar schon immer und in allen Ländern durch einen beachtlichen Anteil von Personen geprägt, die lediglich ihre eigene Arbeitskraft, aber nicht die von anderen verkaufen. In den OECD-Staaten arbeiten durchschnittlich fast zwei Drittel aller Selbständigen ohne Beschäftigte. So betrachtet mag der Typus des Ein-Personen-Unternehmens zunächst als eine tradierte und unspektakuläre Form der „Selbstbeschäftigung“ (self-employed) bewertet werden. Doch der zahlenmäßige Auftrieb dieser Gruppe erreicht zwischenzeitlich ungewohnte Dimensionen. Die Zunahme an Selbständigen in Deutschland ist fast ausschließlich auf die Expansion von Soloselbständigkeit zurückzuführen, weshalb die Alleinarbeitenden zwischenzeitlich weit über die Hälfte (57%) aller selbständig Erwerbstätigen stellen.

Diese Entwicklung lässt die Ursachen und Implikationen selbständiger Alleinarbeit in einem neuen Licht erscheinen. Zwei grundsätzlich kontrastierende Erklärungslinien stehen sich gegenüber, wobei auch Push- und Pull-Faktoren eine Rolle spielen: Aus postfordistischer Sicht sind Soloselbständige im Wesentlichen das Resultat einer umfassenden Flexibilisierung der Arbeitswelt, die vor allem durch Outsourcing, Dezentralisierung und Informatisierung gekennzeichnet ist. Vieles von dem was zuvor in einer abhängigen Beschäftigung geleistet wurde erscheint nunmehr durch neue Vertragsverhältnisse im anderen Gewand. D.h. Scheinselbständigkeit, Subunternehmertum und andere Grauzonen selbständiger Erwerbsarbeit sowie auch Fluchtversuche aus der Arbeitslosigkeit haben diesen Trend beflügelt. So ging der Aufstieg von Soloselbständigkeit teils mit prekären Einkommen, Subunternehmertum, Scheinselbständigkeit, wechselnden Statuspositionen und daher oftmals mit mehr Abhängigkeiten als Freiheiten einher. Doch seit Veränderung der Gründungsförderrichtlinien der Bundesagentur für Arbeit und dem wirtschaftlichen Aufschwung hat der Faktor „Arbeitslosigkeit“ etwas an Erklärungskraft verloren. Dafür jedoch finden sich immer mehr Zuwanderer aus den neuen EU-Mitgliedsstaaten in scheinselbständigen Vertragsverhältnissen wieder.

Auf der anderen Seite sind die Soloselbständigen auch Ausdruck einer wachsenden lebensweltlichen Individualisierung und eines gestiegenen Unabhängigkeitsstrebens. D.h. neue Erwerbs- und Arbeitsformen sind auch eine Folge des wachsenden Bedürfnisses, durch den Schritt in die Selbständigkeit die notwendigen Freiräume in der Arbeitsgestaltung zu schaffen, um berufliche Anforderungen in Einklang mit der privaten bzw. familialen Lebenswelt zu bekommen. In Anbetracht der gewonnenen Freiheiten wäre daher für viele Selbständige die Übernahme einer zusätzlichen Verantwortung für weitere Beschäftigte eher eine Belastung und Bürde als ein erstrebenswertes Ziel. Soloselbständigkeit, und mit ihr neue Arbeitsformen, werden jedoch nicht nur durch veränderte Lebensentwürfe, sondern auch durch die wachsende Bedeutung von Wissen flankiert. Analysen des ifm zeigen, dass sich die Ausbreitung von Solo-Selbständigkeit insbesondere im Bereich der wissensintensiven unternehmensorientierten, kulturellen und kurativen Dienste vollzieht, denn nicht nur veränderte technisch-organisatorische Bedingungen in der Arbeitswelt, sondern auch die gewandelten gesellschaftlichen Bedürfnisse erzeugen neue Opportunitäten. Viele der mit wirtschaftlicher, rechtlicher und technischer Expertise handelnden Selbständigen sowie auch diejenigen in den Medien-, Kultur- und Gesundheitsberufen arbeiten bewusst alleine, denn in einer wissensbasierten und vernetzten Wirtschaft kommt der eigenen Qualifikation häufig eine größere Bedeutung zu als der Verfügung über zusätzliche Arbeitskräfte.

Den Formen, Ursachen und Folgen des Booms an Ein-Personen-Unternehmen nachzuspüren ist ein zentrales Anliegen im Forschungsteam „Neue Selbständigkeit“. Damit verbunden sind die Fragen, nach dem Gewicht einzelner Determinanten: Welche Rolle spielen die technisch-organisatorischen Veränderungen in der Unternehmens- und Arbeitswelt? Warum wächst die Zahl der Soloselbständigen nahezu beständig, obwohl der Druck des Arbeitsmarktes in jüngerer Zeit nachgelassen hat? Welchen Einfluss hat der Wandel gesellschaftlicher Bedürfnisse und wie gestalten Soloselbständige ihre „neue“ Arbeitswelt?
 

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