Immer mehr Betriebe verlassen den Tarifvertrag. Doch führen solche Austritte automatisch zu einer Erosion der Tariflandschaft, die letztlich eine Tarifödnis hinterlässt? Oder führen die Tarifaustritte nur zu einem Wandel der Landschaft, wobei die Grundstrukturen der industriellen Beziehungen durch Orientierung am Tarifvertrag erhalten bleiben? Diesen Fragen geht diese Arbeit historisch und wirtschaftssoziologisch fundiert mit sowohl qualitativen als auch quantitativen Methoden auf den Grund.
Aufbauend auf einer historischen Betrachtung der Entwicklung der industriellen Beziehungen in Deutschland, wird ein theoretischer Rahmen entwickelt, welcher im empirischen Teil konsequent überprüft wird. Am Anfang der empirischen Betrachtung stehen Gesprächsauszügen aus Interviews mit Personalleitern sowie Vertretern von Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften, welche die Bandbreite des Phänomens Tariforientierung aufzeigen. Der darauf folgenden quantitative Teil baut auf einem Datensatz des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung auf, der sowohl Betriebsdaten aus Befragungen als auch Beschäftigtendaten aus den Prozessdaten der Sozialversicherung enthält. Mittels dieser Daten wird der Frage auf den Grund gegangen, welche Formen der Tariforientierung, die sich bei der qualitativen Untersuchung zeigten, im Aggregat letztendlich dominieren. Zur Beantwortung der Frage wird in einem ersten Schritt mittels der Betriebsdaten, die Ausgestaltung der Orientierung am Tarifvertrag aus Sicht der Betriebe dargestellt. In einem zweiten Schritt wird der Sichtweise der Betriebe, anhand der Sozialversicherungsdaten die faktische Entlohnungssituation der Beschäftigten in tariforientierten Betrieben gegenübergestellt.
Im Ergebnis zeigt sich: Die Vergütung in tariforientierten Betrieben liegt weit unter den in tarifgebundenen Betrieben gezahlten Löhnen und Gehältern. Dieser große Unterschied erstaunt, da eine Mehrheit der Betriebe angibt, besser als oder vergleichbar mit dem Tarif zu entlohnen. Vergleicht man zusätzlich unter den nicht tarifgebundenen Betrieben, die tariforientierten mit den nicht tariforientierten Betrieben, kann gezeigt werden, dass sich die Bezahlung in nur minimal unterscheidet. Tariforientierte Betriebe sind daher unter dem Strich tariffernen Betrieben wesentlich ähnlicher als Betrieben innerhalb des Tarifsystems.
Das Ausmaß der Tariferosion ist aus diesem Grund wesentlich gravierender als vermutet. Bisher wurde angenommen, dass Beschäftigte in tariforientierten Betrieben zumindest indirekt von Flächentarifen profitieren. Dies ist jedoch - wie die Ergebnisse zeigen - nicht der Fall. Die zukünftige Rolle und Bedeutung des Tarifsystems wird damit in Frage gestellt. Schreibt man den Trend der letzten 10 Jahre für die nächsten 10 Jahre fort, dann zeigt sich, dass die Tariflandschaft nicht nur in weiten Teilen Ostdeutschlands, sondern auch in Westdeutschland immer weiter erodiert.
Berwing (2016): Tariforientierung in Deutschland : Zwischen Tariflandschaft und Tarifödnis. Forschungsstelle f. Betriebswirtschaft u. Sozialpraxis. ISBN: 978-3-935650-14-4 .
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